WIE TYRLACHING  SICH NEU ERFAND

TYRLACHING IST EINE GEMEINDE IM LANDKREIS ALTÖTTING IN OBERBAYERN UND GEHÖRT ZUR REGION SÜDOSTOBERBAYERN. DER ORT, UM DEN ES HIER GEHT, BILDET DEN MITTELPUNKT DER GEMEINDE UND HEISST PRAKTISCHERWEISE EBENFALLS TYRLACHING. FALLS SIE EINMAL LUST AUF EINEN BESUCH HABEN – UND AUS IRGENDEINEM GRUND OHNE KARTE ODER NAVIGATIONSGERÄT UNTERWEGS SIND –, KEIN PROBLEM: EINFACH LOSFAHREN UND ANHALTEN, WO BAYERN AM SCHÖNSTEN IST. UND WENN SIE SCHON EINMAL DA SIND, WERFEN SIE DOCH EINEN BLICK IN DAS NEUE, ALTE WIRTSHAUS UND DEN ANGESCHLOSSENEN BÜRGERSAAL. DENN DIE SIND DER GRUND, WARUM DIE RUND 1.100 TYRLACHERINNEN UND TYRLACHER SEIT 2020 VIELLEICHT NOCH EIN BISSCHEN LIEBER IN TYRLACHING LEBEN ALS SOWIESO SCHON.

Wer ein bayerisches Dorf verstehen will, muss wissen, wie es funktioniert. Es braucht dazu genau drei Dinge. Erstens die Kirche. Zweitens das Wirtshaus. Beide gehören untrennbar zusammen – nach der sonntäglichen Predigt geht es schnurstracks ins Wirtshaus, so will es die Tradition. Andersherum geht es theoretisch auch, aber das wird nicht so gerne gesehen. Dann, drittens: die vielfältigen Aktivitäten der Dorfbewohner – hier ist man im Musik-, Theater- oder Schützenverein. Wo, wenn nicht im Wirtshaus, ließen sich anstehende Termine und Feste bestens und in Ruhe planen?

Man kann sich daher leicht ausmalen, welch ein Drama es für ein Dorf bedeutet, wenn das einzige Wirtshaus plötzlich seine Türen schließt. Und genau damit beginnt unsere Geschichte – eine Erzählung von Verlust und Aufbruch, von Gemeinschaftssinn und Tatkraft. Was zunächst aussah wie das Ende einer alten Tradition, wurde dank der Hilfe vieler engagierter Menschen und dem außerordentlichen Einsatz des Tyrlachinger Bürgermeisters Andreas Zepper zu einer wundersamen Auferstehung. Heute steht das Wirtshaus schöner da als je zuvor. Und mit dem Bürgersaal, gleich daneben, ist ein neuer Ort der Begegnung, des Feierns und der Verbundenheit entstanden – nicht nur für die Tyrlachinger, sondern für die ganze Gemeinde.

 

DAS RICHTIGE IM 
RICHTIGEN MOMENT TUN
 

Als in Tyrlaching die letzten Pächter des Gasthauses „Zur Post“ aufgaben – zu viel Aufwand, zu wenig Perspektive – waren sich Bürgermeister und Gemeinderat schnell einig: Ein bayerisches Dorf ohne Wirtshaus? Das geht nicht. Kurzerhand pachtete die Gemeinde das Gebäude und betrieb es mit eigenem Personal. „Natürlich war das ein Zuschussbetrieb, und natürlich gab’s Kritik. Aber uns war wichtig, dass das Licht nicht ausgeht“, sagt ­Bürgermeister Andreas Zepper. Nach vier Monaten, in denen man versuchte, das Gasthaus am Laufen zu halten, kam plötzlich die große Gelegenheit: Das gesamte Areal – samt Nebengebäude und Freifläche – stand zum Verkauf. Die Gemeinde griff zu. Und Andreas Zepper wusste: So eine Chance kommt nicht wieder. Jetzt war der Moment gekommen, grundsätzlich darüber nachzudenken, was aus dem ehrwürdigen, aber sanierungsbedürftigen Ensemble aus dem 17. Jahrhundert werden sollte – „teilweise sogar noch älter“, wie Zepper anmerkt.

Und weil Zepper nicht nur Bürgermeister, sondern auch Schreinermeister ist, war ihm klar: Hier reicht es nicht, mal eben die Fassade auszubessern. Hier ist es mit Kosmetik nicht getan. Hier braucht es die große Lösung – für heute, morgen und übermorgen. Also tat er das, was gute Bürgermeister tun: Überzeugungsarbeit leisten, die Ärmel hochkrempeln – loslegen.

 

 

BÜRGERMEISTER ANDREAS ZEPPER

DER BÜRGERSAAL KANN FAST ALLES:

// THEATER // ZUMBA // KINDERTURNEN // ABSCHLUSSBALL // WIRBELSÄULENGYMNASTIK // KONZERTE // MUSIKANTENTREFF // SENIORENNACHMITTAG // YOGA // FASCHINGSBALL // AKTIV DURCH DAS JAHR // HOCHZEIT // GEMEINDERATSSITZUNG // TANZ IN DEN MAI // GANZKÖRPERKRÄFTIGUNG // KABARETT

UND WAS IHNEN NOCH SO ALLES EINFÄLLT

NEUES LEBEN FÜR 
ALTE MAUERN

„Es gab auch schon vor meiner Zeit als Bürgermeister immer wieder Pläne in der Schublade“, sagt Zepper. „Abriss des alten Saals, Neubau einer Einfachturnhalle hinter dem Wirtshaus. Das hätte rund drei Millionen Euro gekostet – und das Wirtshaus selbst wäre dabei komplett außen vor geblieben. Aber Turnhallen haben wir genug in der Region. Wir wollten etwas anderes. Etwas, das dem ganzen Dorf zugutekommt. Etwas, das allen gefällt.“ Nach einem intensiven Beteiligungsprozess – Ideenwerkstätten, Dorfgespräche, Projektgruppen – stand am Ende ein klares Ergebnis: Das Wirtshaus sollte erhalten und saniert werden – und daneben ein neuer Bürgersaal entstehen.

Was dann kam, war ein Lehrstück in ländlicher Entwicklung – mit Mut, Geduld und einer großen Portion Improvisation, nicht zu vergessen die großzügige Unterstützung durch diverse Fördertöpfe des Freistaats Bayern sowie weiterer öffentlicher und privater Fördergeber, ohne die das alles nicht zu packen gewesen wäre. Das Wirtshaus hat einige hundert Jahre auf dem Buckel – und hielt entsprechend viele Überraschungen bereit. „Das Haus war nicht unterfangen, im Bereich des neuen Bürgersaales waren unter dem Boden Felsbrocken, die wir mühsam rausbrechen mussten. Findlinge aus der Urgeschichte. Das hat vier bis sechs Wochen gedauert, bis der Bagger die rausgestemmt hat. Das allein hat Mehrkosten von über 100.000 Euro verursacht", erinnert sich Zepper. „Aber irgendwann sagt man sich: Jetzt sind wir eh schon drin – jetzt ziehen wir’s durch.“

Alte Anbauten wurden entfernt, das denkmalgeschützte Wirtshaus in seinen Ursprungszustand zurückgeführt. Die Küche wurde komplett neu gebaut, von Süden nach Norden verlegt, um das historische Gewölbe als Schankraum zu erhalten. Andere Räume wurden für multifunktionale Nutzungen hergerichtet: Sie dienen nun als Trausaal, als Sitzungssaal für den Gemeinderat und – von April bis Oktober – als Domizil des Schützenvereins. Eine neue Heizungsanlage bezieht ihre Energie nachhaltig aus einer Hackschnitzelanlage gleich ums Eck.

Einige alte Malereien wurden freigelegt und als Sichtfenster belassen – Spuren der Vergangenheit, liebevoll eingebettet in die neue Nutzung. Historische Putze wurden ausgebessert, Stuckdecken repariert – teils in Eigenleistung. „Ich war fast jeden Tag auf der Baustelle. Meine Kinder haben irgendwann gesagt: Der Papa ist nicht da, der ist beim Wirt. Stimmte ja auch“, erzählt Andreas Zepper. Eine der schönsten Geschichten: „Es war Heiligabend 2019. Wir sind wie immer bei meinen Schwiegereltern und fahren gegen 24 Uhr nach Hause und da brennt noch Licht im Wirtshaus. Und das ist natürlich am Heiligabend schon komisch. Also was mache ich? Ich lade meine Familie zu Hause ab, fahr zum Wirtshaus und gehe auf Erkundungstour, warum da noch Licht brennt. Und wen finde ich vor? Da steht doch tatsächlich der Stuckateur – ganz allein – und arbeitet. Seine Freundin war nicht da, er war in der Meisterschule – also hat er an der Decke weitergearbeitet. Am Weihnachtsabend!“

 

ZWEI, DIE SICH GUT VERSTEHEN: BÜRGERMEISTER ANDREAS ZEPPER UND WIRT MICHAEL SCHATZ IN DER NEUEN, ALTEN WIRTSSTUBE. NOCH OHNE GETRÄNK, ABER DAS KANN SICH ÄNDERN.

DER SAAL, DAS DORF UND 
DIE NUTZUNG

2016 begannen die Planungen mit dem Architekturbüro H2M für den neuen Bürgersaal, 2017 lag der Bauantrag vor, 2018 war Baubeginn, 2020 die Fertigstellung. „Natürlich mitten in Corona – mit Abstand, Maske und sehr wenigen Gästen bei der Eröffnung. Aber immerhin. Und am 9. August dieses Jahres feiern wir fünf Jahre Fertigstellung mit einem kleinen Fest für unseren Ort.“

Der neue Bürgersaal ersetzt das alte Nebengebäude – und das auf kluge Weise. „Ich bin kein Architekt, aber was ich schon sagen kann, ist, dass mit H2M – und auch mit Frau Bruckmayer, das möchte ich wirklich betonen – die Verständigung super funktioniert hat. Vertrauen zu haben in Architekten, die eine Sprache sprechen, die wir verstehen – das war entscheidend. Und alles wurde dann auch so umgesetzt, wie wir es uns gewünscht haben.“ Der Saal schiebt sich aus dem Hang, nutzt das Gefälle, um auf mehreren Ebenen ganz unterschiedliche Nutzungen zu ermöglichen. „Im Sommer sitzen die Kindergartenkinder draußen und machen Picknick. Abends finden dort Firmenfeiern und vielfältige Veranstaltungen statt. Wir wollten etwas schaffen, das nicht einfach nur Sporthalle ist.“ Und das ist gelungen: Über 800 belegte Stunden im Jahr, 95 Einzeltermine allein im Februar – von Yoga, über Turnen und Gymnastik bis zu Konzerten und Theateraufführungen. „Tatsache, im neuen Bürgersaal geht praktisch alles. Nur keine wettkampforientierten Ballsportarten. Basketball? Nein. Fußball? Dafür gibt’s anderswo ­genug Hallen.“

 

EINE LÖSUNG FÜR 
GENERATIONEN
 

Heute ist das Wirtshaus wieder verpachtet – mit Biergarten und allem Drum und Dran. Der Bürgersaal wird separat von der Gemeinde koordiniert – so behalten Vereine und Initiativen ihre Planungssicherheit. Wenn der Wirt den Saal braucht, kann er ihn tageweise mieten. „Das ist für beide Seiten eine faire Lösung.“

Bürgersaal und Gasthaus in Tyrlaching sind ein gelungenes Beispiel dafür, wie man auf dem Land mit Engagement, Beteiligung und einem klugen Blick fürs Ganze etwas schafft, das bleibt. Sie zeigen außerdem, dass Denkmalschutz und gute Architektur keine Gegensätze sind, sondern aufs Schönste harmonieren. Dass Bürgersinn und Engagement große Dinge bewegen können – auch in kleinen bayerischen Dörfern. Man muss nur wollen. Oder, wie Mark Twain einmal sagte: „Das Geheimnis, um voranzukommen, ist, anzufangen."

Und angefangen haben sie in Tyrlaching – und zwar gewaltig!