Inmitten des idyllischen Illerbeuren im Unterallgäu hat Julia Staudinger den Bauernhof ihrer Großmutter Anna in ein besonderes Refugium verwandelt. „d’Kammer“ ist ein Ort, der fest in der Region verwurzelt und zugleich offen ist für neue Formen des Arbeitens und Gastgebens: New Work, Retreats und Kulinarik mit regionalem Bezug finden hier ihren Platz – getragen von Respekt für die Baukultur, Liebe zum Detail und dem Mut zur Veränderung. Für ihr visionäres Engagement wurde Staudinger 2024 als „Touristikerin des Jahres“ ausgezeichnet.
Das kleine Pfarrdorf Illerbeuren liegt malerisch im Unterallgäu. Trotz Hügeln, Fluss und Auenlandschaft ist die Gegend touristisch bisher noch kaum erschlossen. Zwar sorgt das Schwäbische Freilichtmuseum, das wie ein Dorf im Dorf steht, für regelmäßigen Fremdenbesuch, doch die wenigsten Gäste bleiben über Nacht. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Hof und das Aparthotel der als „Touristikerin des Jahres 2024” ausgezeichneten Unternehmerin Julia Staudinger nur wenige Schritte vom Museum entfernt liegen. Staudinger liebt ihre Heimat – was vielleicht auch daran liegt, dass sie ihr eine Zeit lang den Rücken gekehrt hatte. „Ich war Bankfachwirtin und später Coach und bin gern und viel gereist. Der Abstand hat mir gezeigt, wie schön wir es hier eigentlich haben.“ Trotzdem weiß sie, dass die Lage allein aufgrund ihrer mangelnden Würdigung in Reiseführern und auf Reiserouten nicht als Argument genügt. Als Staudinger 2016 die historische Hofstelle der Familie übernahm, hatte sie das Ziel, einen Ort zu schaffen, der für sich allein schon eine Reise wert ist.
Seit dem späten 17. Jahrhundert steht der Bauernhof am Dorfeingang – heute wird er bereits in siebter Generation bewohnt. In Julia Staudingers Kindheit lebte hier noch die Großmutter, regelmäßig versammelte sich die ganze Familie. Als diese ihr vor rund zehn Jahren die Hofstelle als Wohnort anbot, hatte Staudinger zwar klare Vorstellungen davon, was unbedingt erhalten bleiben sollte – aber noch keinen Plan, wie der Weg dorthin aussehen würde. „Allen Beteiligten war klar, dass ich den Hof nicht als landwirtschaftlichen Betrieb weiterführen kann und eine neue Nutzung gefunden werden muss. Gleichzeitig hänge ich an dem Haus, so wie es ist, an seiner Geschichte und der warmen und gastfreundlichen Atmosphäre, die ich hier immer erlebt habe.“ Sie will nicht, dass eine Modernisierung des traditionellen Hofgebäudes zum Wohnhaus den besonderen Charakter und damit auch die Familienerinnerungen überschreibt.
Getarnt als Tenne
Ihre erste Entscheidung ist deshalb auch eine sehr klare: Julia Staudinger lässt das traditionelle Hofgebäude zunächst unangetastet und baut das neue Wohnhaus für ihre Familie direkt daneben. „Unsere Risikobereitschaft war damals noch nicht so groß und wir wussten auch noch nicht, was wir mit unserem Budget wirklich umsetzen können“, erinnert sich Staudinger. Schritt für Schritt zu arbeiten und erst einmal die eigene Geschichte zu schreiben, erscheint ihr und ihrer Familie eine zielführende und gut steuerbare Strategie. In Zusammenarbeit mit dem Büro SoHo Architektur richtet sie den Blick auf den Neubau – und muss vor dem leeren Entwurfsblatt erst einmal herausfinden, was für sie die Qualität guter Gestaltung ausmacht. „Ich mag zeitlose, klare Architektur, die im Dialog mit ihrer Umgebung steht. Wichtig ist mir auch der Einsatz regionaler Materialien und dass wir mit Handwerkern aus der Nachbarschaft zusammenarbeiten.“ Das neue Haus soll neben dem alten stehen, einen baufälligen Lagerschuppen ersetzen und sich harmonisch in das Bestandsensemble einfügen. Deshalb übernahmen die Architekten Baumerkmale einer Scheune und „tarnten” den Neubau mit vertrauten Elementen. Mit seinem Satteldach und der Holzfassade orientiert sich das Wohnhaus an der regional üblichen Bauweise – die falunrote Farbgebung und unregelmäßig gesetzten Fenster übersetzen die Tradition in eine zeitgemäße Architektursprache.
Wendeltreppe im alten Futtersilo
Auch das ehemalige Bauernhaus, das einst Tennendurchfahrt, Milchviehstall, Melkkammer, Futtersilo und Heulager beherbergte, wurde umgebaut. „Weil wir dieses Haus als Familie schon immer als Ort der Zusammenkunft genutzt haben, war irgendwann klar, dass es ein Gästehaus werden sollte: d’Kammer“, erzählt Staudinger. So entstand ein Gemeinschaftsraum für Tagungen in der Durchfahrt, der Stall wurde zu Ferienwohnungen und die Melkkammer ist heute der Frühstücksraum. „Dabei wollten wir Charakter und Baukultur unbedingt konservieren und so nachhaltig wie möglich sanieren. Alles, was noch zu erhalten war, haben wir belassen, was noch weiter verbaut werden konnte, haben wir behalten.“ Ein altes Futtersilo wurde zur Verschalung der Treppe und der einfache Zementboden in der Melkkammer mit seiner Patina liegt auch heute noch im Frühstücksraum. „Nicht mehr retten konnten wir das Dach. Um trotzdem zirkulär zu modernisieren, haben wir die alten Schindeln schreddern lassen und unser Gärtner hat damit den Wandelweg durch den Streuobstgarten gebaut“, erzählt Staudinger.
Mit dem Umbau und der konsequenten Neuausrichtung auf ein touristisches Konzept übernahm Julia Staudinger die Hofstelle vollständig von der Elterngeneration. Die Bauphase wurde dabei zu mehr als nur einem strukturellen Wandel – sie markierte auch eine Zeit des Umdenkens, der Klärung und der gemeinsamen Neuausrichtung. „Damals war mein Vater bereit loszulassen – weil er gespürt hat, dass die Idee trägt, dass wir das gemeinsam stemmen können und dass die Gäste den Ort tatsächlich annehmen,“ erinnert sie sich. „Und er ist ja auch immer noch mit dabei, mal als Hausmeister, mal als Manager – er ist und bleibt Teil des Hofes.“ Eine andere Herausforderung für die junge Familie waren die Finanzen. „Die Branche ist bei Banken einfach herrlich unbeliebt. Das wusste ich natürlich schon ein Stück weit durch meinen alten Job, aber wir haben auch kaum bis wenig Förderungen bekommen. Irgendwie sind wir überall durchs Raster gefallen. Da muss man schon starke Nerven haben“, erzählt sie. „Am Ende haben wir eine regionale Bank gefunden, die uns dann doch unterstützt hat.“
Refugien der Ruhe
Gerade weil d’Kammer so viel Leichtigkeit, Ruhe und Wärme ausstrahlt, wird die jahrelange harte Arbeit hinter Projekten wie diesem schnell unterschätzt. Mit unbehandeltem Holz, viel Weiß und bedacht gesetzten Farbakzenten hat Staudinger auf dem Hof ätherische Orte geschaffen, die mit der Natur vor den Fenstern als entschleunigende Refugien wirken. Ihre Gäste sind Familien, die ein Zuhause fernab des eigenen Zuhauses suchen, aber auch Yoga-Gruppen, die hier unter dem alten Gebälk des Dachs Retreats veranstalten oder Firmen und Teams, die hier vier inspirierende Arbeitsorte zwischen Tenne und Streuobstgarten vorfinden. „Unser Haus muss man entdecken. Wir sind bewusst nicht auf den großen Buchungsportalen vertreten. Um uns zu finden, muss man gezielt nach den Eigenschaften und Ausstattungen suchen, die uns ausmachen – wie das sensible Design, die Saunas im Garten oder unsere besondere Kulinarik. Und wenn die Menschen einmal unsere Gäste sind, finden sie es hier meist wunderschön. Wir haben viele Stammgäste und eine hohe Weiterempfehlungsrate“, erzählt Staudinger.
Das Gute liegt so nah
Julia Staudinger ist eine leidenschaftliche Idealistin, die in ihrer Ferienunterkunft dieselben Werte und Überzeugungen lebt, die ihr auch im privaten Leben wichtig sind. Von der Architektur über die Kommunikation bis zu dem, was sie ihren Gästen serviert. „Wir wollen unser Frühstück nicht irgendwie machen, sondern mit Wertschätzung für die Lebensmittel und die lokalen Produzenten. Wir kaufen in der Nachbarschaft ein und werden damit auch zu Botschaftern der Region.“ Viele Gäste nehmen nach ihrem Aufenthalt in d’Kammer die Produkte mit nach Hause, die Julia Staudinger sowohl in der Küche als auch in den Apartments mit großer Sorgfalt kuratiert. „Wir haben hier im Allgäu eine Schlafmanufaktur für ökologische Bettwaren und Matratzen, von der wir unsere Ausstattung beziehen. Ich finde es toll, diesen kleinen Firmen, die es hier noch gibt, aber die vielleicht kaum jemand kennt, Sichtbarkeit zu geben.“
Im Dialog mit den Nachbarn
Kommunikation lebt Staudinger auch nach außen. „Gerade zu Beginn wurden wir im Dorf durchaus kritisch beäugt. Wenn jemand Dinge anders anpackt als gewohnt, begegnet man dem hier im Allgäu erst einmal mit Zurückhaltung. Viele konnten anfangs gar nicht einordnen, was wir hier eigentlich vorhaben. Und meine Eltern, die durch ihr Engagement in den örtlichen Vereinen tief im Dorfleben verankert sind, mussten sich so mancher Frage stellen.“ Um in den Dialog zu gehen, veranstaltet Staudinger zur Eröffnung auch einen Tag der Offenen Tür für die Nachbarn, die sich dafür interessieren, was es mit der Baustelle der letzten Jahre auf sich hatte. „Wir waren sehr gut besucht und die meisten waren positiv überrascht, was wir aus dem Hof gemacht haben, wie wir mit der lokalen Baukultur umgegangen sind und dass wir auf lokales Handwerk gesetzt haben – das hat uns schon Anerkennung gebracht.“ Anerkennung hat sie zuletzt auch überregional bekommen. Staudinger ist vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus 2024 als Touristikerin des Jahres ausgezeichnet worden. Die Wertschätzung und die Sichtbarkeit freuen Staudinger, aber viel stärker beschäftigen sie die Pläne für die Zukunft. „Ich habe noch so viele Ideen. Im Sommer würde ich gern Qi Gong anbieten und mir Zeit nehmen, um die Geschichten von all unseren lokalen Partnern auf der Webseite und in den Sozialen Medien zu erzählen. Als Botschafterin der Region. Von Herzen und aus Überzeugung.“











