In Berchtesgaden ist ein Ort entstanden, der Tourismus anders angeht als die historischen Vorgänger mit ihren abge­schot­teten und exklusiven Ferienanlagen. Der Kulturhof Stanggass steht auf dem Gelände des ehemaligen Luxushotels Geiger und hat sich mit seiner modernen und doch lokalen Holz­archi­tek­tur sowie seinem nachhaltigen Konzept schnell einen Namen gemacht – bei Einheimischen wie bei Besuchern. Der Bauherr ist vor Ort kein Unbekannter. Bartholomäus Wimmer ist seit vielen Jahrzehnten in der Lokalpolitik aktiv – und bringt vielleicht genau deshalb die richtige Mischung aus Respekt und Offenheit mit, die der idyllische Ort mit seinem spekta­ku­lären Panorama verdient. 


 

Dr. Bartholomäus Wimmer

 


 

Der große Umbruch für ein altes Hotel kündigt sich im Juli 2017 ganz beiläufig an. „Ja, ich habe das Hotel Geiger ersteigert“, postet Bartholomäus Wimmer, Grünen-Politiker, Laborarzt und Synlab-Gründer auf der Social-Media-Plattform Facebook. Das Hotel Geiger liegt in der Gemeinde Bischofswiesen am Ortseingang von Berchtesgaden, umrahmt von den Berggipfeln rund um den Watzmann und in direkter Nähe zum Königssee. Das Geiger ist eine Berchtesgadener Institution. Eröffnet 1866 und erweitert 1924, war es lange allein schon aufgrund der Ausmaße mit 160 Betten und mehreren Häusern eine der ersten Adressen im Ort. Begonnen hatte das Geiger als einfaches Bauernhaus, das immer wieder durch Gebäude im Heimatstil ergänzt wurde und im Innern mit prunkvollen Biedermeiermöbeln, edler Holzvertäfelung und ausladenden Kronleuchtern den Zeitgeist einfing. Thomas Mann machte hier Urlaub, Pierre Trudeau, die Bee Gees und Elvis Presley. 1997 dann folgt ein jähes Ende. Das Hotel meldet Insolvenz an und in den kommenden zwei Jahrzehnten können die Berchtesgadener den langsamen Verfall des Ensembles beobachten. 

 


 


 

Plötzlich Hotelier


Einer, der die Entwicklungen rund um das vier Hektar große Gelände im Auge hat, ist Bartholomäus Wimmer. Immer wieder gibt es Pläne, Wimmer gefällt keiner davon. „Alle Nutzungskonzepte sahen eine dichte Bebauung vor, teilweise drei- bis viermal so dicht wie der Bestand.“ Wimmer will das verhindern und als das Hotel 2017 zum wiederholten Mal in die Zwangsversteigerung geht, fährt er spontan hin. „Ich habe mir gedacht: Was kann schon passieren?“, erzählt er. Was passiert, ist, dass Wimmer das Ensemble für 2,4 Millionen Euro ersteigert. Eigentlich ist Wimmer Mediziner und Mitbegründer eines der größten und wichtigsten Labore Europas. Als gebürtiger Berchtesgadener ist er außerdem seit 1984 bei den Grünen in der Kommunalpolitik aktiv, wird mehrmals in den Gemeinderat gewählt und ist seit 1990 Kreisrat im Berchtesgadener Land. Mit Auktionsende ist er außerdem Besitzer eines baufälligen Luxuskastens, für dessen Zukunft er (noch) keinen Plan hat.

 

Wiederbelebungsversuche

 

Danach gefragt, ob ihn diese spontane neue Lebensaufgabe nicht beunruhigt hat, winkt er ab. „Ich habe sehr oft das Gegenteil von dem gemacht, was ich eigentlich vorhatte.“ Wimmer ist ein Überzeugungstäter, einer mit Bauchgefühl, aber auch einer, der im zweiten Augenblick strategisch und überlegt an die Dinge herangeht. Und so wendet er sich gleich an den Städteplaner und Architekten Manfred Brennecke, Mitgründer des Büros ArcArchitekten, der in Berchtesgaden bereits in die Planungen rund um das Hotel Edelweiss sowie die Berchtesgadener Fußgängerzone eingebunden war. Brennecke sagt zu. Der Bauherr und der ­Architekt müssen jetzt mit zwei Voraussetzungen umgehen: zum einen mit den verfallenen Bestandsgebäuden, zum anderen mit dem Flächennutzungsplan, der das Gelände als Sondergebiet für touristische Nutzung ausweist. Sie wollen die marode Hotel-Legende eigentlich wieder instand setzen, merken aber bald, dass die Gebäude selbst in Teilen kaum erhaltensfähig sind.


„Ich habe sehr
oft das Gegenteil von dem
gemacht, was ich eigentlich vorhatte.“

______ Wimmer ______

Der Kulturhof ist ein Familienbetrieb. Gründer Bartl Wimmer arbeitet an der strategischen Entwicklung, Sohn Florian und Tochter Miriam betreuen das operative Geschäft.

Die Architektur soll kein Ufo sein, das auf einer grünen Wiese landet.

v. l. : Stefan Kohlmeier und Manfred Brennecke, ArcArchitekten

 

Aus der Landschaft heraus entwickelt

 

Für die architektonische Gestaltung neuer Gebäude sind jetzt Inhalt und Aufgabe entscheidend. Wimmer ist es wichtig, dass das Gelände den Berchtesgadenern offensteht, auf keinen Fall will er ein „abgeschottetes Resort“. Mit im Team ist Stefan Kohlmeier, Partner bei ArcArchitekten. „Wir haben von Anfang an über soziale Themen gesprochen. Und wir sind in der Region herumgefahren, um uns gelungene Gebäude und Raumprogramme anzuschauen. Dann haben wir Listen gemacht, mit Nutzungen, die Einheimische genauso adressieren wie externe Gäste: ein Wirtshaus mit Festsaal für Hochzeiten, ein Kartenspielzimmer, ­Außenräume zur Begegnung, eine naturorientierte Architektur“, erzählt Kohlmeier. Das Architektenteam baut ein Modell vom ­Gelände und schiebt Bauklötze hin und her. Ziel ist es, herauszufinden, was auf dem Gelände möglich ist. Das Gästehaus rückt von der Straße weg in den ruhigen Garten, dafür kommt der Festsaal, der gesehen werden soll, an die Grundstücksfront. Dorthin, wo aktuell noch das historische Hotel Geiger steht. Kohlmeier präsentiert Wimmer den Plan. Und Wimmer? Der muss erst einmal in die Berge, sich die Dinge in Ruhe überlegen. Als er zurückkommt, steht die Entscheidung: Die alten Gebäude werden konsequent abgerissen und die Fläche wird von Grund auf neu geplant.

 

Ein abgeschirmter Kraftort

 

Am Anfang steht das Konzept auf drei Säulen: Hotel, Gastronomie und Veranstaltungen. Bei der Ausarbeitung kommen immer mehr Inhalte dazu. „Um den Garten zu beruhigen, wollten wir ihn mit einem Gebäuderiegel abschirmen. Dann wurde überlegt, was dort einziehen könnte. So kam der Seminarraum auf den Plan“, erzählt Kohlmeier. Dann wenden sich einige Ortsansässige an Wimmer, die gern mit ihren Ideen auf das Gelände ziehen würden. Ein Professor, der mit seinen Studenten von hier aus zum Thema Tourismus forschen möchte. Eine Yogalehrerin, die keinen Studioraum hat. Wimmer nimmt sich ihrer Vorschläge an. Schließlich bringen genau solche Konzepte Einheimische und Gäste zusammen, wenn sie beispielsweise in der Yogastunde ihre Matten nebeneinander ausrollen. Als alle Funktionsräume definiert sind, geht es an die architektonische Planung. ArcArchitekten arbeiten aus dem Ort heraus. Die Architektur soll kein Ufo sein, das auf einer grünen Wiese landet, aber ebenso wenig historisierend. Deshalb orientieren sie sich an der Formensprache der lokalen Höfe, die meist längliche Gebäuderiegel aus Holz sind und ins Land hineinragen. Auf keinen Fall soll die neue Architektur die Tradition nachbilden. „Ich will keinen Alpenbarock, keine billige Kopie“, sagt Wimmer.


 

Der Geist des Alten als Fundament des Neuen


Anders als die traditionellen Vorbilder haben die Häuser des neuen Kulturhofs keine Dachüberstände, sondern sind monolithische Baukörper. Einerseits gibt ihnen das ein modernes Gesicht, andererseits ist diese Idee auch Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der lokalen Baukultur. „Wir haben festgestellt, dass die öffentlichen Gebäude in Berchtesgaden, wie das Rathaus, das Schloss oder die Kirche, alle keinen Überstand haben – und da haben wir die Idee vertreten, dass wir das auch am Kulturhof so machen“, resümiert Kohlmeier. Außerdem will der Grünen-Politiker Wimmer enkeltauglich bauen, sorgsam mit Natur-Ressourcen umgehen und so regional wie möglich arbeiten. Schnell fällt die Entscheidung für Holzbauten. Ein Drittel des Holzes stammt aus seinem eigenen Wald, musste aufgrund des Eschesterbens sowieso geschlagen werden und wird in einem lokalen Sägewerk verarbeitet. Bei der Energieversorgung setzt Wimmer auf Solarpaneele und eine Hackschnitzelheizung, das Regenwasser wird rückgewonnen. Und dann hat er noch einen ganz besonderen Wunsch: Er will den Geist des alten Hotel Geiger in den Kulturhof mitnehmen. Das Gemäuer der Ruine w­ird ­gereinigt und zermahlen und so zu einer neuen Bauressource, die in Fundament und Wege eingegossen wurde. Der Kulturhof baut im wortwörtlichen Sinn auf der Geschichte des Geländes.
 

Raum für Begegnung


Den Planenden war es wichtig, viele Situationen für Begegnung und Interaktion zu erschaffen. Am Kreuzungspunkt der Wege liegen Bar und Biergarten, die mit zwölf Meter langen Bänken ausgestattet sind und es unmöglich machen, sich nicht dazuzusetzen. Nischen, Sitzstufen und Plätze laden zum Plausch ein, im Veranstaltungssaal treten lokale und internationale Künstler und Musiker auf, es gibt Handwerker- und Kulinarikmärkte, Sommerfeste und Weinverkostungen. Was es nicht gibt: brummenden Klimaanlagen und Fernseher – die schönste Sicht liegt sowieso hinterm Fenster. Bei manchem Detail hat sich Wimmer auch von Erinnerungen aus seiner Kindheit inspirieren lassen. „Meine Familie hatte ein kleines, ländliches Gasthaus, bei dem immer ein Maibaum aufgestellt wurde und wo die Kinder fernab von der Straße spielen konnten. Die Eltern saßen im Biergarten - und hatten die Kinder trotzdem immer im Blick.“ Der Spielplatz des Kulturhofs liegt in Sichtweite des Biergartens.
 

Immer dynamisch in Bewegung


Auf dem Gelände werden Kräuter und ein paar Gemüsesorten angepflanzt, Wimmer hat zuletzt ein 24 Hektar großes Nachbargrundstück dazugekauft, mit dem der Nutzpflanzen-Anbau erweitert werden soll. Einige der selbst gezogenen Produkte landen jetzt schon auf den Tellern der Kulturhof-Gastronomien, etwa bei den Gästen des Solo Du. Das Restaurant ist in dem Raum untergebracht, der eigentlich das Kartenspielzimmer hätte werden sollen. Darauf weist noch der Name hin, der eine besondere Spielart beim Schafkopf bezeichnet. Dass hier heute vor allem mit der Kulinarik gespielt wird, hat das Blatt allerdings zum (noch) Besseren gewendet. Das Solo Du hat sich gerade seinen ersten Michelin-Stern erkocht. Bartholomäus Wimmer freut sich für den engagierten Küchenchef Zsolt Fodor, Karten werden dann einfach woanders gespielt. Das Gelände ist eben ein Projekt, das ständig in Bewegung ist, sich dynamisch und spontan an neue Ideen, Nutzer und Anforderungen anpasst. So läuft das eben bei jemandem, der immer alles anders macht als eigentlich geplant. 


„Ich wollte den Geist des alten Hotel Geiger in den Kulturhof mitnehmen.“

______ Wimmer ______

Der eigene Garten als Ressource: Zsolt Fodor wurde 2023 mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet – und sorgt dafür, dass der Kulturhof Stanggass auch ein Anzugsort für Gourmets ist.