Zwischen Bayern und Bangladesch

Pionierin, Visionärin, Revolutionärin: Für das, was Anna Heringer macht, gibt es viele passende Titel. Die Architektin arbeitet an der Neuorientierung und Zukunftsfähigkeit unserer Baukultur und hat dafür eine traditionelle Ressource im Werkzeugkoffer: Lehm. Mit ihren weltweit realisierten Projekten beweist sie, dass Schönheit dort entsteht, wo Menschen eine gemeinsame Mission teilen, sich Gebäude aus dem Ort heraus entwickeln und mit lokalen Materialien realisiert werden.

Über sich selbst sagt Anna Heringer, sie habe grünes Blut. Aufgewachsen ist sie in Laufen, einer kleinen bayerischen Stadt an der Grenze zu Österreich. Ihr Vater ist Ökologe, die Familie hat einen großen Garten auf einem ehemaligen Friedhof und der Kreislaufgedanke gehört selbstverständlich zu ihrer Erziehung. Die Ferien verbringt sie regelmäßig bei den Pfadfindern, fernab der Zivilisation. Dann errichteten sie und ihre Freunde mitten im Wald ein neues Dorf. Mit Schnüren, Stöcken und Zeltplanen entsteht eine temporäre Infrastruktur; Häuser, Dusche, Donnerbalken, Küche. „Da ging es auch darum, Ikonisches zu errichten, Türme und Tore zu bauen. Ich habe erlebt, warum Gebäude mit Symbolcharakter wichtig sind: Weil man sich mit ihnen identifizieren kann“, erzählt sie aus dieser Zeit. „Es ist ein tolles Gefühl, wenn man die eigene Kraft spürt“. Bauen fasziniert sie, aber auch die Idee, keine Spuren zu hinterlassen. 

Nach dem Abitur geht Anna Heringer für ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Bangladesch. Sie will die Perspektive wechseln und ist neugierig auf das Leben in den Ländern des Globalen Südens. Vor Ort wird sie mit ihrer Erwartungshaltung konfrontiert. „Ich habe vor der Reise gedacht, dass Schönheit etwas mit Reichtum zu tun hat. In Bangladesch war ich dann erstaunt, wie schön das Land ist, obwohl die Menschen wenig haben. 

Schönheit, das habe ich schnell gelernt, hat in Wirklichkeit mit Achtsamkeit zu tun.“ 

Heringer erfährt, dass es weniger auf den materiellen Wert von Dingen ankommt, sondern wie sie behandelt werden. Dass sich günstige lokale Ressourcen wie Bambus oder Ton durch handwerklich aufwendige Arbeit in wertvolle Produkte verwandeln. Dass in einer Mangelgesellschaft auch Gebrauchtes eine Ressource ist, aus der sich etwas Schönes erschaffen lässt. 

„Der Grad der Selbstwirksamkeit, inwieweit die Menschen ihre eigene Mitwelt gestalten. Da sind wir weit entfernt von Bangladesch.“ Bewusst spricht Anna Heringer von Mitwelt, nicht von Umwelt. „Es ist doch eine seltsame Vorstellung, wenn man sich als Zentrum sieht und nicht als Teil eines Ganzen, oder?“ Anna Heringer hinterfragt die Dinge, egal ob Sprache oder Baukultur. Nur weil es üblich ist, etwas auf eine bestimmte Art zu sagen oder zu machen, heißt das für sie nicht, dass es nicht einen anderen oder besseren Weg gibt. 

Nach ihrer Rückkehr beginnt Anna Heringer in Linz Architektur zu studieren. Aber ihre Erfahrungen aus Bangladesch lassen sie nicht los. Mit ihrer Diplomarbeit will sie sich dem Themenfeld Soziologie, Ökologie und Entwicklungszusammenarbeit widmen. Nur: der Status quo frustriert sie. „Mein Dilemma war, dass das Bauen im Kontext von Entwicklungszu­sammen­arbeit auf die reine Funktion reduziert war. Schöne Architektur galt geradezu als Affront. Und wo Ästhetik wichtig war, da fehlte das Soziale und das Ökologische.“ 

Bei einem Workshop mit dem Lehmbauexperte Martin Rauch kommt sie das erste Mal mit Lehm in Kontakt. Mit den eigenen Händen etwas zu formen, sich auf die Intuition verlassend, das hat für sie eine geradezu magische Kraft. Der Werkstoff ist ihr persönlicher Missing Link und die Antwort auf die Frage, wie es mit ihrem Diplom weitergehen kann. 

Ihr Gastdorf in Bangladesch wird zum Standort, Lehm zum Baumaterial und eine Schule zum Thema. 

Und die Resonanz auf ihren Entwurf ist so positiv, dass sich Förderer finden, die ihr Gebäude realisieren wollen. Ein Jahr nach ihrem Abschluss wird in Rudrapur aus Lehm und Bambus Anna Heringers METI Schule gebaut. Die junge Architektin ist für die Bauzeit in Bangladesch – und holt sich das ganze Dorf an ihre Seite. Auch bei der Strategie, im Kollektiv zu arbeiten, beruft sie sich auf ihre eigenen Erfahrungen. Sie erinnert sich an ihre Pfadfinderzeit, als sie mit Hölzern, Stöcken und Freunden ein ganzes Dorf im Wald baute. „Bauen ist in der menschlichen Matrix angelegt. Jedes Kind baut Höhlen. Nur haben wir diese Aufgabe komplett delegiert und kriegen schlüsselfertige Häuser. Wenn man aber selbst Hand anlegt und seine Kraft investiert, hinterlässt das Zufriedenheit und Identifikation.“ Anna Heringer integriert Partizipation deshalb direkt in die Planung und hinterlässt auch in Bangladesch Stolz und Wertschätzung.   

Heringer, die ihre Karriere intuitiv und nicht strategisch angegangen ist, gelingt mit ihrem Berufsstart, was für viele ein lebenslanges Karriereziel bleibt: Sie gewinnt für die METI Schule mit gerade einmal 30 Jahren – neben vielen weiteren Auszeichnungen – den renommierten Aga Khan Award for Architecture, einen der prestigeträchtigsten Preise ihrer Profession. Der sorgt für Aufmerksamkeit und bringt ihr auch ein Preisgeld ein, das sie nicht nur mit der Dorfbevölkerung in Rudrapur teilt, sondern das ihr auch dabei hilft, die nächsten Projekte zu initiieren. Dabei hat sie eine klare Mission, denn sie will ab sofort auch andere von der Qualität des Werkstoffes Lehm in der Architektur überzeugen. „Es ist das einzige Material, was ich direkt von der Natur nehmen kann. Lehmbauten lassen sich ohne Qualitätsverlust reparieren und recyceln, denn Lehm kann direkt in die Natur zurückgegeben werden. 

Er ist nachhaltig, ästhetisch wertvoll und sozial gerecht. 

Weil es in vielen Regionen natürlich vorhanden ist, ist es ein sozial faires Material. Die Wertschöpfung findet nicht in der Industrie statt, sondern bleibt beim Handwerker.“

Lehm ist stigmatisiert. In vielen Ländern, in denen er lange ein traditioneller Baustoff war, gilt er heute als minderwertiges Material und ist nur eine Alternative für die Einkommensschwachen, die sich den teureren Zement nicht leisten können. Zwar wohnen etwa 20 % der Weltbevölkerung in Gebäuden aus Lehm, könnten sie aber wählen, würden sie wahrscheinlich Häuser aus Beton bevorzugen, denn sie gelten als luxuriöser und langlebiger. 

Dass sie damit in hermetisch abgeschlossenen und den Standort ignorierenden Strukturen leben, die CO2 binden, in denen sich die Hitze staut und die dann wiederum künstlich und energieaufwendig heruntergekühlt werden müssen – darüber reflektieren noch die wenigsten. Beton hat sich gerade im urbanen Raum als Standard durchgesetzt und wird wenig hinterfragt. Lehm hingegen hat gute thermische Eigenschaften, trägt zur Temperatur- und Feuchtigkeitsregulierung bei und sorgt für ein angenehmes Raumklima. Von all diesen Vorteilen will Anna Heringer aber nicht nur die Menschen im globalen Süden überzeugen, sondern auch ihre eigene Heimat. 

„Solange die Menschen das Thema in Dörfern in Asien oder Afrika gesehen haben, gefiel es ihnen gut. Aber wenn ich gesagt habe: Das ist eine globale Strategie, Lehm gehört auch zu unserer Baukultur – da wollte man davon nichts wissen.“ 

Anna Heringer will die Bauwirtschaft auf den Kopf stellen. 

In den ersten Jahren baut Anna Heringer mit ihrem Studio in Bangladesch, in China und in Simbabwe. Immer mit Lehm – und immer inklusive partizipativer Bauprozesse. 

Ihre Projekte werden in unzähligen internationalen Magazinen und Büchern porträtiert und für ihre ästhetische, soziale und ökologische Qualität gefeiert. Es entstehen filmische Dokumentationen über ihre Arbeit. Ein TED-Talk von Anna Heringer wird auf YouTube von über einer Million Menschen gesehen. Sie wird zur Architekturbiennale nach Venedig eingeladen. Sie lehrt an der Harvard-Universität und an der ETH Zürich, vermittelt auch dem Nachwuchs einen zeitgerechteren Blick auf Ressourcen und gewinnt weitere Architekturauszeichnungen. Mehr Renommee und kollegiale Anerkennung kann man als Architekt*in kaum erhalten. Bis sie ihr erstes Lehmprojekt in Europa baut, vergehen allerdings fast fünfzehn Jahre. Engagierte Lehmprojekte sind fotogen im Fachmagazin, ihre Bilanzen lesen sich gut auf dem Papier. Dass aber irgendwo in der deutschen Provinz wirklich ein Bauherr Wände stampfen lässt – bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

2021 wird nach einem gemeinsamen Entwurf mit Martin Rauch das RoSana Ayurveda Kurzentrum in Rosenheim gebaut, das sich mit Holz, Lehm und einer Fassade aus Weidengeflecht auf traditionelle und lokale Bautraditionen beruft. Und auf dem Campus St. Michael entstehen derzeit zwei weitere Gebäude von Anna Heringer. Ist das der Beginn des Imagewandels, den sich die Architektin für Lehm als Baumaterial wünscht? Es ist zumindest der erste, dringend notwendige Schritt. 

Wenn Anna Heringers Lehmgebäude in Europa realisiert werden, werden sie zu Referenzen, die belegen, dass sich Lehm nicht beim ersten Regen auflöst und eine besondere Wohnqualität hat. Sie hofft dadurch langsam mehr Nachfrage zu generieren und dadurch auch die Wirtschaft zu bekehren. „Bilder können das nicht vermitteln. Das muss man spüren. Wichtig ist aktuell, dass die Bauträger und auch die öffentliche Hand Verantwortung übernehmen und sagen: Wir bauen jetzt die Leuchtturmprojekte.“

Lehm löst sich nicht im ersten Regen auf. 

Dabei hat sie schon den nächsten Schritt im Fokus. „Aktuell ist es so: Wir graben den Lehm aus, um Fundamente zu gießen, und zahlen, um den Lehm zu entsorgen. Mein Zukunftswunsch wäre, dass wir regionale Lehmfabriken haben, so wie Vorarlberg. Dort wird das Aushubmaterial der Region genutzt, indem man daraus Baublöcke macht, aus denen man Gebäude stapeln kann oder Lehmputz und Lehmziegel produziert.“   

Anna Heringer belegt mit ihren Arbeiten, dass gute Architektur keine komplexen Strukturen braucht, keinen CO2-bindenden Beton, keine ressourcenverbrauchend gebrannten Ziegel, keine Bewehrung, keine intelligente Haustechnik. Dass sie wortwörtlich aus dem schöpfen kann, was ihr Fundament ist, der Boden, auf dem sie gebaut wird. 

Lehm ist ein Baustein für die Häuser der Zukunft. 

Und die müssen nachhaltiger, inklusiver, sozialer und flexibler werden. Dafür muss sich aber auch die Baukultur verändern. Denn aktuell ist das Material, das sich eigentlich kostenlos aus der Erde holen lässt, hierzulande teurer als Beton. Das liegt daran, dass Lehm viel Arbeitskraft braucht, in Europa eine kostenintensive Ressource. Und gerade in Deutschland gibt es viele Normen, Auflagen und Gesetze, die es dem Lehm (und den Lehmarchitekt*innen) derzeit noch schwer machen. Heringer appelliert an die Politik, CO2-sparende Baumaterialien zu fördern. Etwa, indem handwerkliche Leistungen nicht mehr so hoch besteuert werden, dafür aber Maschinen, die hunderte Arbeitsplätze ersetzen, endlich Sozialabgaben zahlen. Erst wenn die Materialien, die aufwendig produziert, verarbeitet und entsorgt werden müssen, auch realistisch teuer sind, schauen die Menschen sich nach Alternativen um. Es wäre auch eine Rückkehr zu den Wurzeln unserer Baukultur, die mit hyperlokalen Ressourcen begonnen hat. Und es ist die Art und Weise, wie Anna Heringer an jedes ihrer Projekte herangeht: „Was ist in meinem direkten Umfeld an Materialien vorhanden? Was habe ich in mir selbst, was in meinem Netzwerk und wie kann ich daraus etwas gestalten, unabhängig von externen Faktoren?“ Architektur, die sich aus dem Ort heraus entwickelt, hat für Anna Heringer eine besondere Kraft und Schönheit. 

 

„Lehm ist ein Element wie Feuer und Wasser. Du fühlst dich in einem Gebäude aus Lehm einfach geerdet.“