Seit 16 Jahren ist Jonas Merzbacher der regierende Bürgermeister von Gundelsheim. In dieser Zeit hat sich in der kleinen Gemeinde viel getan. Eine Scheune wurde zum gemeinsamen Lesesaal, ein Schlecker zum Gasthaus und Architekturstudenten reisen zur Ortsbegehung an, um zu lernen, wie man durch gezielte planerische Interventionen die soziale Dynamik eines Ortes verändern kann. Ein Besuch bei einem, der es anders macht als viele andere – und damit überzeugend richtigliegt.


 

Die Geschichte von Jonas Merzbacher und Gundelsheim, einer oberfränkischen Gemeinde mit 3900 Einwohnern, beginnt 2008. Jonas Merzbacher, geboren in Bamberg und Politikstudent in Würzburg, ist gerade einmal 24 Jahre alt, politisch überregional aktiv und Mitglied der SPD. Auf Bitten der Partei lässt er sich als Kandidat für das Bürgermeisteramt in Gundelsheim aufstellen. Die Absichten sind nur halb ernst, denn über den Ausgang der Wahl sind er und seine Partei sich relativ gewiss. Die stärkste Kraft im Ort waren bisher immer die CSU oder die Bürgergemeinschaft gewesen.

„Im Wahlkampf habe ich mich auf die Zusage konzentriert, mich voll für die Gemeinde und ihre Identität einzusetzen“, blickt Merzbacher zurück. „Und den Wahlkampf habe ich unter dem Gesichtspunkt einer spannenden, aber zeitlich limitierten Erfahrung gesehen.“ Doch dann passiert das völlig Unerwartete: Jonas Merzbacher gewinnt die Wahl. Er wird Bürgermeister von Gundelsheim.

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Das ortstypische ­Bauernhaus im Zentrum von Gundelsheim wurde durch Umbau und Neubau zu einer Bücherei, einem Treffpunkt und einem Gemeindezentrum. Die progressive und harmonisch aufs städtische Milieu abgestimmte Architektur lässt den Bestand noch erkennen und ist bereit für die Zukunft.

Bei seinem Amtsantritt ist Jonas Merzbacher zweit­jüngster Bürgermeister Deutschlands und der jüngste in Franken. „Ich weiß noch, wie am Abend nach der Wahl ein Kumpel zu mir sagte: Mensch, die letzten Monate dachten wir, wir hätten einfach Spaß – und jetzt ist daraus ernst geworden.“ Heute lacht Jonas Merzbacher, wenn er daran zurückdenkt. Das kann er auch, denn 16 Jahre später ist er immer noch Regierende Bürger­meister in Gundelsheim. Mittlerweile ist er sich sicher, warum er damals ins Amt gewählt wurde. „Die Menschen haben sich neuen Schwung gewünscht, sie wollten, dass in der Ortschaft etwas vorangeht“. Ein 24-jähriger Politik­stu­dent, der einen frischen Blick auf die Gemeinde mit­bringt, dazu ein Parteiwechsel – viele Bürger sahen darin eine Chance, und Merzbacher hat sie wahr­ge­nommen. In den letzten Jahren hat er in seiner Ge­mein­de nicht nur für Schwung, sondern auch für stete Bewegung gesorgt. 

Danach gefragt, was er richtig gemacht hat, lenkt er jedoch schnell von seiner Person ab. Lieber spricht er über die strukturellen Veränderungen der letzten Jahre: „1960 hatte Gundelsheim gerade einmal 800 Einwohner, 1980 waren es schon fast 3000. Trotzdem hat sich bei den Bürgern kaum ein Zusammen­gehörig­keits- oder ­Heimatgefühl entwickelt.“ Es fehlte an Begegnungs­stätten. Es gab kein Gasthaus, kein Senioren­zentrum, keine Räume für Jugendliche. Viele der neuen Bürger kamen aus Bamberg aufs Land und pendelten zur Arbeit. Sie waren weniger wegen Gundelsheim nach Gundels­heim gezogen als wegen der Natur und einem bezahlbaren Einfamilienhaus. Die Gemeinde wurde zunehmend zu einem Schlafort und bildete trotz ihres idyllischen Zentrums am Leitenbach mit seinen Uferwiesen immer mehr infrastrukturelle Lücken aus.

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Schlecker 

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schlaf

Da die Scheune des historischen Bauernhauses nicht mehr existierte, entschieden sich Schlicht Lamprecht für ihren Neubau und gliederten sie an den Bestand an. Im Innern ist alles hochflexibel, denn die Regale sind ebenso wie das übrige Mobiliar beweglich. Wird die Fläche gebraucht, lässt sich blitzschnell alles aus dem Weg schieben.
Der alte Schlecker ist heute Biergarten und Dorfrestaurant mit Wasserblick.
Die Bibliothek aus der Feder des jungen Büros Schlicht Lamprecht ist ein Beleg dafür, dass baukulturell engagierte und qualitativ anspruchsvolle Architektur auch auf dem Dorf die richtige Antwort auf strukturelle Herausforderungen ist.

Eine der Lücken war der alte Schlecker-Markt auf der Hauptstraße: Seit 2012 standen die Räume, bestehend aus einem Gebäude von 1900 und einem flachen Kopfbau von 1971, leer. Weil keine neuen Betreiber gefunden werden konnten, entschlossen Bürgermeister Merzbacher und Gundelsheim sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Mit Unterstützung der Städtebauförderung erwarb die Gemeinde 2015 den Gebäudekomplex. Merzbacher, der ein Freund von ­Bürgerbeteiligungen ist, bezog die Gundelsheimer von Anfang an intensiv in die strategische und städtebauliche Planung des Geländes mit ein. Vor allem wünschten die Bürger sich ein Wirtshaus, das auch als sozialer Treffpunkt funktionieren würde. Und so begann die Planung einer gastronomischen Einheit. Auch hier setzte Merz­bacher auf Transparenz und Kommunikation. Um beispielsweise die Dimensionen des geplanten Umbaus praktisch erfahrbar zu machen, wurde auf dem Flachdach des alten Schlecker-Marktes temporär ein Aufbau aus Planen errichtet, der die bauliche Veränderung im städtischen Milieu als Provisorium erfahrbar machte. „Nur wenn man die Leute mitnimmt, gibt es auch Akzeptanz“, resümiert ­Merzbacher.

Seit 2022 ist der alte Schlecker das Bürger-Gast-Haus, außerdem hat die Gemeinde in der Zwischenzeit noch zwei anliegende Grundstücke mit Gebäuden erworben, die das Ensemble ergänzen. Neben dem Gasthaus gibt es eine Scheune, die für Veranstaltungen und größere Gesellschaften genutzt wird. Vereine, Hochzeiten, Elternabende können stattfinden, die Küche kocht neben dem hauseigenen Menü auch für die Kita und das Seniorenheim und zu Mittag gibt es ein günstiges „Bürgeressen“. Betrieben wird das Gasthaus als einziger Gesellschafter der GmbH von der Gemeinde. Das ist für sich genommen schon ungewöhnlich, wer aber abends kommt, könnte sein Bier vom Bürgermeister serviert bekommen. Nahezu jeden Tag steht Jonas Merzbacher für ein paar Stunden hinter dem Tresen. „Am Anfang hatte ich einfach die Idee, mich aktiv in das Projekt einzubringen, um es nach vorne zu bringen. Von da an haben die Gundelsheimer mich geradezu angezählt: Mal sehen, wie lange er es durchhält, ob zwei oder drei Monate.“ Nach 16 Jahren mit Jonas Merzbacher hätten sie ahnen können: Ihr Bürgermeister ist keiner, der schnell das Handtuch wirft. „Jetzt sind es fast zwei Jahre und ich bin eigentlich fast jeden Tag da“, lacht er. 

Bürger-

Sprechstunde 

am Wirtstresen

 

 

Architektur 

als ­sozialer 

Klebstoff

Aber Merzbacher schenkt hier natürlich nicht nur Bier aus, er ist auch nah an den Wünschen und Sorgen der Bürger. „Das Bürger-Gast-Haus ist eben kein Vereinsheim, das man erst aufsperren muss. Man trifft sich informell: Die einen spielen Karten, die anderen trinken ein Bier, junge Familien kommen zum Essen und zum Plausch vorbei.“ Und mit Merzbacher am Ausschank ist das Bürger-Gast-Haus im Grunde auch eine Rückbesinnung auf die Tradition, dass Geschäfte und Politik am Wirtstisch gemacht werden. „Statt in der Früh' zu mir ins Rathaus zu kommen, fahren manche abends noch einmal schnell und unbürokratisch am Tresen vorbei.“ Aus einem leeren Schlecker und einer maroden Scheune ist ein sozialer Marktplatz geworden, der so gut angenommen wird, dass es trotz der Hundert Plätze manchmal schwer ist, noch einen freien Stuhl zu finden. 

Tatsächlich ist das Bürger-Gast-Haus schon Merzbachers zweites Projekt. Das erste liegt in Sichtweite auf der anderen Seite des Leitenbachs. In den alten Gemäuern eines historischen Bauernhauses hat 2020 nach Umbau und Anbau durch das junge Architekturbüro Schlicht Lamprecht eine Bibliothek eröffnet, bei der sich historischer Bestand und moderner Holzbau treffen. Und so wie im Gasthaus Bier und Brezn nur ein Argument für das Zusammenkommen sind, sind auch die Bücher nur ein Baustein des Kulturortes, der auch die Funktion eines Gemeindezentrums übernimmt. Die alten Gebäude Gundelsheims zu erhalten liegt Jonas Merzbacher am Herzen. „Das ist im Sinne der Nachhaltigkeit verantwortungsvoll. Aber auch hier kommt das Thema der Identität ins Spiel. Die Gebäude sind ein Teil der Stadtgeschichte und sie machen den Charakter einer Ortschaft aus. Menschen, die hier ihr Leben verbracht haben, verbinden Geschichten mit den Häusern. Wir wollen die alten Geschichten bewahren und forterzählen.“ 

Häuser, 

die ­Geschichte 

erzählen

Seit über zehn Jahren gestaltet die Gemeinde Gundelsheim sich mit Unterstützung von Städtebauförderungsprogrammen um. Nach Bibliothek und Bürger-Gast-Haus soll als Nächstes eine Brücke zum Ort der ­Begegnung für die Bürger werden.

Ein besonderer Erfolg für Gundelsheim ist, dass diese Geschichte mittlerweile nicht nur überregional, sondern international gehört wird. Regelmäßig kommen Architekten, Studenten, Forschende und Politiker nach Gundelsheim, um sich die Modellprojekte von Merzbacher zeigen zu lassen. Das hat auch das Verhältnis der Einwohner zu ihrer Gemeinde verändert. „Wenn man die Gundelsheimer früher gefragt hat, woher sie kommen, dann haben sie meist Bamberg gesagt. Heute ist das anders, die Antwort lautet dann Gundelsheim.“ Die Gemeinde hat eine Marke und eine Identität entwickelt. 

Damit hätte die Geschichte ein Happy End, doch Jonas Merzbacher denkt schon ans nächste Kapitel. „Wir wollen eine neue Verbindung über den Leitenbach schaffen.“ Aktuell gibt es hier eine schmale Holzbrücke, der neue Bau hingegen wird sieben Meter breit werden, unter dem Leitsatz: „Mehr als eine Brücke“. Was dieses „Mehr“ ausmacht, ließe sich nach Bibliothek und Wirtsstube schon erahnen: Die Transitfläche, die auch der kürzeste Weg zwischen Bürger-Gast-Haus und Bibliothek sein wird, soll zur nächsten Begegnungsfläche für die Bürger werden.

Gundelheims 

neue 

Dynamik