Ein Dorf baut ein Dorf – Klosteranger Weyarn

Idyllischer und komfortabler könnte Weyarn kaum liegen: Aus dem Münchner Zentrum führt die ­Autobahn dreißig Minuten Richtung Süden direkt bis vor den Ortskern. Trotz der Lage nahe der Alpen sind aber nicht nur Ausflügler und Touristen anzutreffen. Die Gemeinde ist ein Vorzeigeprojekt für strategische Dorfentwicklung und Mehrgenerationenwohnen – und zieht damit auch diejenigen an, die in anderen Städten oder Dörfern Ähnliches planen.

Sie sind sich einig: Von Weyarn und seiner jüngsten Geschichte kann man vieles lernen.

NICHT OHNE DIE BÜRGER

Wer sich heute im Spannungsfeld von historischem Ortskern und dem neu gebauten Wohnviertel bewegt, wer den Bürgern beim gemeinschaftlichen Gärtnern zuschaut oder autofrei zwischen Häusern und Wiesen zu einem unter einem grünen Hügel gut verborgenen Supermarkt schlendert – der ahnt kaum, dass es in dieser Idylle vor fünfzehn Jahren noch ordentlich krachte. ­Damals war die Ortsmitte die Klosterwiese.

 

Fünf Hektar lagen hier unbebaut
als Teil des Klosters Weyarn brach –
und boten die einzigartige Chance,
den Ort von innen heraus zu
entwickeln.



Doch unter den Bürgern formierte sich Widerstand. Manch einer fürchtete den Strukturwandel oder den Verlust der Aussicht. Andere wollten keinen Lärm, die Wiese als Kulturlandschaft erhalten oder schlichtweg keine Veränderung. Ein Bürgerbegehren wurde ins Leben gerufen. Mit ihm sollte die Bebauung des Angers verhindert werden. Doch am Ende setzten sich die Befürworter des Bauvorhabens durch. Als es dann mit dem Architekten Andreas Leupold und der Gemeinde in die Planung ging, hatte man aus der jüngsten Geschichte gelernt. Für alle war klar: Es geht nicht ohne die Bürger.

 

MUT ZUM WANDEL
 

Das sogenannte „Weyarner Modell“ holt seit mittler­weile drei Jahrzehnten die Bewohner als Mitentscheider für die Dorfentwicklung an Bord. Jeder ist eingeladen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Mit großer Resonanz. Arbeitskreise wurden gegründet, Diskussionsrunden und Workshops veranstaltet und immer wieder stellten sich alle die eine wichtige Frage: Wie soll unsere Heimat in der Zukunft aussehen?

Die Bürger wünschten sich, dass Weyarn zu einem Ort wird, der für alle Generationen attraktiv ist. Für junge Singles, die kleine Apartments suchen. Für Senioren, die ihre viel zu groß gewordenen Eigenheime aufgeben wollen und eine barrierefreie Wohnung brauchen. Für Familien, die viele Räume, einen Garten und Anschluss an die nahe Großstadt suchen. Und für die „Ausheimischen“. So nennen die Ortsansässigen in Weyarn diejenigen, die im Dorf aufgewachsen sind, zum Studieren oder Arbeiten in die Stadt gezogen sind und dann zur Lebensmitte mit ihren Familien in ihre ­Heimat zurückkehren wollen.

So wurden für die Familien 45 Reihen- und Doppelhäuser geplant – und für alle anderen stehen sieben Mehrgenerationenhäuser mit insgesamt siebzig unterschiedlich großen Wohnungen zur Verfügung. Dabei wurde mit barrierefreien Wohnungen und verschieden großen Grundrissen bei den Wohnungen für ein breites Angebot gesorgt – und gleichzeitig durch die Lage am Ortskern die Teilnahme aller hier lebenden Bewohner am Dorfleben gefördert. Auf dem Anger wäre Platz für mehr gewesen. Aber: Eine dichtere Bebauung hätte die Freiflächen reduziert – und gerade die sollten als Raum für alle erhalten werden.

 

 

Die Weyarner Mehrgenerationenhäuser zitieren den historischen Baustil auf dem Land, ohne ihn zu imitieren – und bringen so Neu und Alt in einen Dialog.

Der neue Koster­anger vermittelt vertraute Dorfidylle. Ganz ­bewusst ist das Viertel autofrei, und nicht nur an den hölzernen Gartenzäunen findet der ein oder andere Nachbarschafts­plausch statt.

Zwischen den Häusern wurde bewusst viel Freiraum gelassen. Die Wege, Gärten und Grünräume werden nicht nur von den direkten Anwohnern genutzt, sondern sind Begegnungsfläche für das ganze Dorf.

EIN FREIRAUM FÜR GEMÜSE
UND GESELLSCHAFT


Die Idee einer lebendigen und integrativen Gemeinschaft zeigt sich in einem äußerst ungewöhnlichen Konzept. Statt die Gärten der Eigenheime konsequent abzuschirmen, entschied man sich für kleinere private Rückzugsorte und einen weitläufigen, kollektiv nutz­baren Grünraum.

 

Der Klosteranger als
größter Garten für alle

 

Die Autos müssen draußen bleiben, stattdessen führen geschwungene Wege einmal zentral durch den ­Anger, vorbei an Rosengarten, Streuobstwiese und Gemeinschaftsgarten zu Kinderspielplätzen, Bänken und Boule-Bahn. Alles wirkt natürlich gewachsen – und ist doch geplante Idylle. Verantwortlich war der Landschaftsarchitekt Uwe Schmidt, der besonders den gelungenen Bezug zum dörflichen Bestand hervorhebt. Schon in der Planung wurde immer wieder kritisch hinterfragt: Was ist angemessen und typisch? Was entspricht dem Wesen des Ortes und wo ist besondere Rücksicht angebracht? Schmidt erzählt von Anekdoten, die so nur unter achtsamen Bedingungen passieren. „Als wir bei Aushubarbeiten zufällig riesige Findlinge fanden, haben wir diese verbaut. Heute sind sie teilweise Kletter- und Spielfelsen, teilweise Bausteine eines Geologielehrpfades, den eine Initiative realisiert hat. Mehr Ortsbezug geht nicht“, berichtet er.

Der neue zentrale Anger erinnert mit seinen Qualitäten an traditionelle, bayrische Dörfer, in denen zu Fuß eingekauft wird und auf dem Weg noch Zeit für einen kurzen Ratsch mit den Nachbarn bleibt. Aber er gibt auch Antworten auf die aktuellen Anforderungen der Bewohner. Die Kinder können auf den Wegen spielen, die Familien Gemüse, Kräuter und Obst in den Gemeinschaftsgärten ziehen. Die Autos parken teils versteckt in einer „Parkstadl“ getauften Scheune, die steht aber nur ein paar Schritte vom Eigenheim entfernt.

 



 

Viele neu geplante Freiräume orientieren sich an ­Minimalanforderungen und wirken dadurch stereotyp. Der Freiraum ist aber kein Anhängsel. Gebäude und Freiraum müssen in einen Dialog gehen. Als Landschaftsarchitekten ­beobachten wir aktuell einen Trend zu kleineren Gartengrundstücken, einfach weil nicht ­jeder ausreichend Zeit für die Pflege hat. Trotzdem wünschen die Menschen sich ­gemeinsam nutz- und erlebbare Flächen. Diesen Ansprüchen wird der Klosteranger in seiner strukturellen und räumlichen Ausprägung besonders gerecht: Der Einkaufsmarkt wurde quasi unter die Angerwiese geschoben, die Parkstadl ­nehmen die Autos auf und durch die Verteilung von Spielbereichen gibt es keine punktuelle Lärmbelastung. Hier ist überall Spielplatz, aber auch Rückzug möglich.

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UWE SCHMIDT, LANDSCHAFTSARCHITEKT

 



 

TREFFPUNKT FLETZ


Wie die Architektur und Stadtplanung ganz gezielt die Begegnung und Interaktion der Dorfbewohner unterstützen soll, lässt sich auch bei den Mehrgenerationenhäusern sehen. In Weyarn sollen nicht einfach Nachbarn wohnen, sondern eine Gemeinschaft. Jedes Haus verfügt über einen „Fletz“, wie man im Süddeutschen eine Diele in alten Bauernhäusern nennt. Allerdings ist sie hier keine schnell durchlaufene Transitfläche. Von außen geben schon die großen, bodentiefen Fenster einen Hinweis darauf, dass hier etwas anders ist. Viel Licht fällt in die Stuben zwischen den Wohnungen, Sitzgelegenheiten machen sie zum Begegnungsraum. Wenn sich die Nachbarn hier treffen, können sie sich kurz gemütlich niederlassen, witterungsgeschützt und ohne die Tür zu ihren privaten Wohnbereichen öffnen zu müssen.

 

DIE PERFEKTE WOHNUNG
IST INDIVIDIELL


Die Wohnungen selbst sind ebenfalls auf ihre Nutzer zugeschnitten. Was die einzelnen Käufer und Mieter wollen und brauchen, haben sie in den Arbeitskreisen zusammengetragen und dann mit dem Architekten Andreas Leupold geteilt. „Alte Menschen haben Vorräte“, erzählt die Vorsitzende des Weyarner Arbeitskreis Altersplanung, Betty Mehrer. „Deswegen muss jede Wohnung einen kleinen Vorratsraum haben. Oder: Alte Menschen machen gern ihre Küchentür zu, wenn sie gekocht haben. Junge Menschen wollen eine offene Küche, da ist Kochen ein Event. Deswegen müssen die Wohnungen unterschiedlich ausgestattet sein.“ Wie gut das individuelle und generationsübergreifende Konzept funktioniert hat, kann man nicht nur an der mittlerweile fast ausschließlich positiven Resonanz der ehemals kritischen Weyarner ablesen. Sondern auch an der Statistik, denn 70 Prozent der Wohnungen in den Mehrgenerationenhäusern wurden an Bürger aus Weyarn verkauft. Und an den Preisen, die das kleine Weyarn mit seinem revolutionären Städtebauprojekt mittlerweile eingeheimst hat, vom Baukulturpreis der Metropolregion München über den Polis Award und Preis Kerniges Dorf bis zum German Design Award.

Die Weyarner Mehrgenerationenhäuser zitieren den historischen Baustil auf dem Land, ohne ihn zu imitieren – und bringen so Neu und Alt in einen Dialog.

 

Wenn Sie mehr über den Klosteranger in Weyarn wissen ­wollen, empfehlen wir Ihnen die ARD Mediathek. Hier finden Sie die ­Dokumentation: ­Unter unserem ­Himmel: Weyarn – vom Mut zur Veränderung. >> zum Film

Der Anger geht über einen Hang in das mit Gras bewachsene Dach des Supermarktes über und macht ihn – gut getarnt – zu einem Teil der Landschaft. Im Winter kann man darauf rodeln, im Sommer picknicken und die Aussicht auf die ­Berge genießen.